Das Leben ist verwirrend. Der Tod ist es auch.
Die bewegende Biografie von Mamel und ihr irritierendes Ende.
Vom Glück, ihre Tochter zu sein und vom Unglück, ihren Verlust kaum verkraften zu können.

Veröffentlicht am 23. November 2013

Gedanken nach einem Jahr der Trauer

 

 

„Ihre Mutter ist soeben verstorben. Sollen wir sie wiederbeleben?“ Dieser Anruf ist jetzt ein Jahr her.

Wir sind an einem sonnigen Novembertag mit dem Auto unterwegs, als mich diese Nachricht erreicht. Ich bin geschockt und starre meinen Mann an. Er spürt sofort, ohne zu wissen, worum es geht, dass er schnell fahren soll. Noch 150 Kilometer bis Berlin.

Die Ärztin am Telefon spricht von einer fehlenden Patientenverfügung. Wenn der Patient selbst nicht entscheidungsfähig sei, müsse sie nun den mutmaßlichen Willen des Patienten ermitteln. Sie wolle sich darüber nicht hinwegsetzen. Sich nicht strafbar machen …

Um Gottes Willen, sie soll mir vertrauen: Es gibt keine Verfügung! Irgendwo liegt gerade meine Mutter auf dem Boden, es geht um Minuten, Sekunden. Es geht um alles! Die Ärztin soll handeln! Die Ärztin handelt.

Von da an höre ich alles am Telefon mit.

Wie der Defibrillator angesetzt wird. Nochmal. Und nochmal. Nach ewigen Minuten kommt die Notärztin ans Telefon und sagt: „Wir konnten ihre Mutter stabilisieren, jetzt werden wir sie …“

Plötzlich ruft jemand im Hintergrund: „Wir haben sie wieder verloren!“

Die Ärztin sagt nun: „Ihre Mutter ist soeben wieder verstorben. Sollen wir sie noch einmal reanimieren? Ich möchte daran erinnern, dass sie Jahrgang 1925 ist.“ Als ob ich das nicht weiß! Ich rufe ihr zu, dass sie alles Menschenmögliche und Unmögliche für meine Mutter tun soll. Alles.

Ich halte mein Telefon fest in der Hand und bekomme das Drama live mit. Ich traue mich kaum zu atmen. Es ist der einzige Kontakt zu meiner Mutter. Nach langem Warten sagt die Ärztin: „Wir haben es noch mal geschafft und bringen Ihre Mutter jetzt ins Krankenhaus. Es ist nicht sicher, ob sie überlebt.“

Ich lege auf. Noch 110 Kilometer bis Berlin.

Jetzt ruft mich meine Tochter an. Sie hat den gleichen Anruf erhalten wie ich – leider vor mir. Während einer Unterrichtspause wurde ihr am Handy mitgeteilt: „Ihre Mutter ist soeben verstorben“. Sie hat sofort nach dem Ort gefragt: Wo? So klärte sie schnell, dass es sich um ihre Omi handelt. Unsere Namen sind versehentlich verwechselt worden.

Die Zeit ist kostbar wie nie. Wird beim plötzlichen Herzstillstand nicht sofort gehandelt, bedeutet das für den Betroffenen den Tod. Mit jeder Minute ohne Wiederbelebungsversuche sinken die Überlebenschancen um fast zehn Prozent. 100000 Menschen erleiden in Deutschland pro Jahr einen plötzlichen Herzstillstand, nicht einmal jeder Fünfte überlebt ihn. Es ist bizarr. Das alles haben meine Mutter und ich zwei Monate zuvor noch bei einem Gesundheitsforum gehört. Der Professor auf dem Podium erklärte, wie man richtig hilft, also „die Ärmel aufkrempelt“. Nun liegt meine Mutter bei ihm auf der Intensivstation.

Als wir endlich dort ankommen, erklärt uns der Oberarzt die lebensbedrohliche Lage. Mein Mann versteht sie sofort. Meine Tochter auch. Aber ich denke nur: Kreislaufversagen und Herzstillstand sind doch Verlegenheitsdiagnosen. Der Arzt hat keine Ahnung, was meine Mutter in ihrem Leben alles überstanden hat. Was weiß er von ihrem Schicksal? Und er weiß auch nicht, wie oft ich solche Gespräche geführt habe. Das war ihr fünfter Sturz. Sie hat sich immer was gebrochen, aber diesmal nicht. Nicht die linke Hüfte, nicht die rechte, keinen Fuß, keinen Arm. Diesmal ist es nur eine Verstauchung. Sie ist noch immer wieder aufgestanden!

Ich will pragmatisch an die Situation herangehen. So als ließen sich Gefühle beschließen. Doch als ich endlich zu meiner Mutter darf, setze ich mich an ihr Bett und kann nicht aufhören zu weinen. Das künstliche Koma, die unregelmäßige Atmung, die vielen Geräte – kann ich ihr nicht etwas von ihrem Leid abnehmen? Ich wäre so gern das Herz gewesen, das für sie schlägt.

In den nächsten Tagen harre ich mit meiner Tochter und meinem Sohn an ihrer Seite. Wir haben ihr nicht einfach nur unser Leben, wir haben ihr unser wirklich schönes Leben zu verdanken. Wir lieben sie über alles. Da sitzen wir am Bett, reden mit ihr und schweigen auch, sind stark und sind hilflos. Angeblich bekommt sie nichts mehr mit. Aber wenn wir ihre Lieblingsmusik spielen oder englisch mit ihr sprechen, dann geht ihr Puls hoch. Niemand von uns würde sie aufgeben!

Ich bringe es nicht über die Lippen, „du kannst gehen“ oder so etwas zu sagen. Ich sage nur: „Ruh dich aus. Du warst so tapfer und fleißig in deinem Leben.“ Gleich morgen werden wir wieder da sein.

Am neunten Tag bleiben wir bis 22 Uhr. Als ich gehen will, bewegt Mamel plötzlich die Augen und schaut mir hinterher. Ich gehe zurück und setze mich noch einmal eine Viertelstunde zu ihr. Dann verabrede ich mit dem Arzt, dass ihr der Herzschrittmacher wieder angelegt wird, sie Ramipril verabreicht bekommt und das Fieber unter Beobachtung bleibt. Gleich morgen werden wir wieder da sein.

Zuhause sehen wir noch fern. Ausgerechnet in jenen Tagen sendet die ARD ihre Themenwoche „Leben mit dem Tod“. Alles, was wir tagsüber auf dem Rekorder aufnehmen, saugen wir nachts in uns hinein. Es geht um den Umgang mit Sterbenden und Hinterbliebenen, um Unausgesprochenes und Orientierungslosigkeit, medizinischen Fortschritt und hoffnungslose Diagnosen, psychische Last und seelischen Stress, um Würde und um Rückzug. Es geht um uns.

Ärzte sagen, dass Todkranke meist in jenen Momenten sterben, in denen die Angehörigen sich einen Kaffee holen oder das Zimmer verlassen. Weil die Familie oft nicht loslassen kann, sei das die Chance des Sterbenden. Inmitten da hinein erreicht uns nachts der Anruf: „Ihre Mutter ist leider soeben verstorben.“

Es ist absurd, mein erster Gedanke ist: Nein! Nicht schon wieder! Mir ist die Endgültigkeit noch gar nicht klar.

Da liegt sie nun. Im Reanimationsraum. Wir sollen Abschied nehmen – aber ich will nicht. Ich umarme meine Mutter, küsse sie auf die Stirn und massiere ihr die Füße. Drei Stunden lang. Ich kann nicht loslassen.

Und ich kann nicht glauben, dass sie gehen wollte – sie hat das Leben geliebt.

 

Foto: Rubini Zöllner

 

Nun ist ein Jahr vergangen. Es war nur eines von so vielen Menschenleben, aber so vieles ging mit diesem einen zu Ende.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir uns wiedersehen. Dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Ich würde es so gern glauben, aber ich kann es nicht.
Gab es denn ein Leben vor der Geburt?

Ich habe gehofft, im Trauerjahr vieles bewältigen zu können. Einmal alle vier Jahreszeiten ohne sie zu durchleben, alle Feiertage, und es dann überwunden zu haben. Aber es ist nicht gelungen, der Schmerz ist noch frisch. Anfangs war ich ins Leben hineingestorben, und noch immer erscheint es mir wie eine Behauptung. Ich habe genaugenommen nur eines begriffen: Auf den Tod ist Verlass. Auf das Leben nicht.

Bis zu jenem Novembertag war ich sehr glücklich mit meinem Leben. Ich hatte keinen Grund, daran etwas zu ändern. Doch plötzlich stand ich vor Herausforderungen, die ich nicht gesucht, aber zu bewältigen hatte. Ein großes Gefühl des Ausgeliefertseins überkam mich. Ich konnte nicht fassen, dass sich die Welt einfach so weiterdreht, dass die Menschen wie gewohnt ihren Sachen nachgehen, dass es einen Morgen und ein Abend gibt – als wäre nichts passiert. Das war nicht mehr meine Welt. Ich suchte ziellos nach etwas Verlorenem. Die Tote durfte nicht tot sein, die Lebende konnte nicht leben.

Am 21. November 2012 bin ich aus der Welt gestolpert und in einen Abgrund gefallen. Die ersten Wochen habe ich Erinnerungen eingeatmet, aber den Schmerz nicht ausgeatmet. Habe große innere Leere und zugleich auch großen inneren Druck verspürt. Ich implodierte und war selbst angestorben.

Meine Mutter lag über allen Gedanken. Sie war mein letzter Gedanke beim Einschlafen und mein erster beim Aufwachen. Jede Nacht träumte ich von ihr, jeden Morgen wurde ich von einem Holzhammer geweckt. Die Tage waren elend, die Nächte auch. In meinen Träumen öffnete ich die Tür zu ihrer Wohnung, und sah sie auf der Couch sitzen und Abendbrot essen. Doch anstatt mich zu freuen, sagte ich zu ihr: „Mamel, wie kannst du mir das antun? Hier einfach sitzen? Als wäre nichts passiert? Nochmal kann ich das alles nicht durchmachen. Ich schaff es jetzt schon nicht.“

Dann wurde ich wach und schämte mich. Ist Trauer vielleicht auch Egoismus, weil man so viel um sich selbst kreist? Weil einem so viel genommen wird und so wenig bleibt? Macht Trauer gar infantil? Ich war 45 Jahre alt, hatte selbst zwei erwachsene Kinder, und dachte doch nur dies: Ich will meine Mutter zurück!

Sie war eine echte jiddische Mamme, meine Mamel: immer aufmerksam, immer mahnend, immer etwas dramatischer, als es die Situation eigentlich hergab. Voller Chuzpe, Stolz und Liebe. In kleinen Dingen sehr temperamentvoll und in großen sehr gelassen. Nie geizig mit guten Ratschlägen, aber stets besorgt um meinen Kontostand. Sie war immer präsent. Wir hatten eine überaus enge Bindung, lange war sie meine einzige Bezugsperson. Das ergab sich aus ihrer Biografie.

Großeltern hatte ich nie, auch keine Tanten, keine Onkel, keine Cousinen, keine Cousins. Und mein Vater war schon vor 26 Jahren gestorben. Nun waren beide Eltern tot. Mir wurde bewusst, dass der Welpenschutz vorbei war. Dass ich jetzt an der Spitze meiner Familie stand. Dass etwas Besonderes abhandengekommen ist.

 

Jeder Tod ist einmalig. Jedes Leben auch. Meine Mutter kam 1925 als Ilse Hoferichter in Berlin zur Welt. Sie hatte eine wunderbare Kindheit, bis ihre Familie 1937 aus Deutschland fliehen musste. Mit der Transsibirischen Eisenbahn begann ihre Reise ins Ungewisse. Shanghai war, nachdem viele Länder jüdische Flüchtlinge abwiesen, die letzte Zuflucht. Ihre Mutter, ihr Vater, ihr Bruder und sie hatten ihre Leben gerettet – im Gegensatz zu den anderen jüdischen Verwandten, die in Deutschland blieben, auf ein Wunder hofften, und von denen keiner, wirklich kein einziger aus der Familie überlebte.

 

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Im September 2013 haben wir in Yad Vashem unsere Familie recherchiert.

 

Doch auch im Exil war vieles verwirrend. Als die Familie im August 1937 dort ankam, war gerade der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg ausgebrochen: Die Japaner hatten China besetzt, dagegen unterstützte die Sowjetunion die Chinesische Volksrepublik. In all dem Tohuwabohu aber wurden Einreisevisa erteilt. Die Emigranten hatten den unbedingten Willen, zu überleben, aber keinen, sich einzurichten. Shanghai war eine Zwischenstation, in der alle auf das Ende warteten – mit der Überzeugung, dass die Nazis verlieren werden. Nur ahnte niemand, dass das so lange dauern würde.

Die Familie meiner Mutter hielt sich nur ein Jahr in Shanghai auf und zog dann nach Tientsin, eine Provinz 140 Kilometer vor Peking. Dort lebte sie elf lange Jahre. Doch da die Japaner zugleich Verbündete von Nazi-Deutschland waren, reisten auch staatstreue Deutsche in China ein – die Exilanten nannten sie „Importierte“. Und so kam es, dass auch fernab der Heimat die Schule jeden Morgen mit dem Hitlergruß begann; dass es auch im Exil Hakenkreuzfahnen und HJ-Uniformen gab.

Krieg ist kompliziert. In dem Jahr, als meine Mutter 16 wurde, 1941, griffen die Japaner Pearl Harbor an. Nun traten auch die USA in den Zweiten Weltkrieg ein und immer mehr GIs waren neben den sowjetischen und chinesischen Soldaten in China präsent. Das wiederum macht klar, warum viele Exilanten fließend Russisch, Englisch und Chinesisch sprachen, wie meine Mutter.

Der 8. Mai 1945 war dann für die Deutschen das Ende des Zweiten Weltkrieges. Für die Emigranten in China aber war dieser Krieg erst am 6. August 1945 vorbei: mit dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima. Aber war wirklich alles vorbei? Zwei Tage darauf, am 8. August 1945, erklärte die Sowjetunion Japan den Krieg.

Wenig später, 1946, kurz vor der elterlichen Silberhochzeit, starb Lucie, die geliebte Mutter meiner Mutter. Mit ihrem Tod zerfiel die Familie. Ihr Vater haderte mit seinem Schicksal und ging – das kann man so sagen – nun auch in die innere Emigration. Ihr Bruder Rudolf zog mit den Quäkern durch Asien, arbeitete in Thailand – und nahm sich in Tunesien das Leben. Meine Mutter hatte seinen Tod nie verkraftet. Und sie selbst wurde schwer krank. Freunde und Bekannte wanderten längst aus: in die Vereinigten Staaten, in die Schweiz, nach Israel. Sie aber konnte das nicht. Sie hatte in China Typhus bekommen und eine schwere Wirbelsäulen-Tbc, erhielt viel Morphium und lag jahrelang im Gipsbett. Erst 1950 schaffte sie es, aus dem Exil zurückzukehren. Mit einem Stahlkorsett, das sie noch Jahre tragen musste.

Meine Mutter entschied sich für Deutschland, „wo die Menschen eine Zeit lang einem fatalen Irrtum erlegen waren“. Aber: Sie traute den Menschen etwas zu. Zeit ihres Lebens konnte sie nichts mit Worten wie „Patriotismus“ oder „Vaterland“ anfangen. Sie hatte sich einfach für ihre Heimat entschieden. Berlin-Lichtenberg. So kam sie in die junge DDR, obwohl sie hier keinen Verwandten mehr hatte. Doch sie fand Freunde. „Menschen, die nicht nur Erfahrungen gemacht hatten, sondern diese auch anwenden konnten“, wie sie sagte.

Anfangs wurde sie in der DDR noch als Opfer des Faschismus (OdF) anerkannt. Doch eines Tages sagte Ottomar Geschke, der Vorsitzende des OdF-Ausschusses: „Aber die Juden haben nicht gekämpft!“ Damit entfachte er eine Debatte: Wer ein Opfer war und wer nicht. Bald galten Juden lediglich als „passive“ Opfer der NS-Kriegsführung, und 1955 wurde meiner Mutter – wie vielen anderen Juden – der OdF-Status aberkannt. Einmal wurde in der Behörde so getan, als sei ihre Familie ohnehin nur wegen „einer beruflichen Veränderung des Vaters“ ausgewandert – und nicht geflohen. Ein anderes Mal, sei die Familie angeblich „drei Tage zu früh“ ausgewandert. Wieder ein anderes Mal konnte sie nicht nachweisen, „wenigstens ein halbes Jahr“ im Konzentrationslager gewesen zu sein.

Die Einführung des „Arierparagrafen“ und die Bücherverbrennung von 1933, die Nürnberger Gesetze und die Rassentheorien von 1935 sahen die Bürokraten nicht als „hinreichende Gründe“ für die Emigration 1937.

Es fiel schwer, keine Willkür zu unterstellen. Dieses Glück, „überhaupt überlebt zu haben“, musste den Heimkehrern genügen. Weiteres Nachfragen unterstellte Anmaßung. So blendete die DDR die historische Verantwortung aller Deutschen aus: Sie war nicht der NS-Staat, und Antisemitismus war nicht ihre Erfindung. So als hätte sie die bösen gegen die guten Menschen ausgetauscht, erklärte sie ihre Bürger zu einem Volk von Antifaschisten und sich zur Siegerin der Geschichte.

Meine Mutter hat manches in der Gesellschaft nachdenklich gemacht, aber den Glauben an den Einzelnen hat sie nie verloren. Sie sagte: „Jeder Mensch ist nur ein Gast auf Erden“ und fand es verhängnisvoll, „in diesem kurzen Dasein noch Vorurteile zu hegen“. Wir haben nur dieses eine Leben. Sie war klug und emanzipiert, folglich hielt sie sich nicht mit Enttäuschungen auf.

Viele Jahre nach der Wende, 2002, nahm mich bei einem Treffen im Jüdischen Museum eine Freundin beiseite: „Seit 13 Jahren hat deine Mamel Anspruch auf Wiederanerkennung. Abini, wenn sie es nicht tut, tu Du es! Das steht ihr zu! Das hat nichts Bescheidenheit zu tun. Das hat noch nicht mal mit Gerechtigkeit zu tun! Also was ist: Versprichst Du es mir?“ Kurz darauf suchte ich alle Unterlagen raus, und zum 77. Geburtstag erhielt meine Mutter ihre Wiederanerkennung als Verfolgte.

Es war selbstverständlich, endlich etwas für sie zu tun. Denn ich habe ihr so viel zu verdanken.

 

MamelAbiniUnsere Mutter-Tochter-Geschichte begann natürlich mit meinem Vater. Er kam aus Nigeria, war ein überzeugter Kommunist und in der Arbeiter- und Bauernpartei. Sein erstes Kind in Afrika nannte er Juri, nach Juri Gagarin. Mein Vater war begeistert von der Sowjetunion und lernte russisch. In Lagos arbeitete er im Untergrund, entging nur knapp einer Verhaftung und wurde 1965 nach Moskau geschleust, wo er die zentrale Parteihochschule besuchte. Anschließend gelangte er in die DDR, studierte an der Karl-Marx-Universität in Leipzig Journalistik, war bei der „Magdeburger Volksstimme“, auch bei der „Berliner Zeitung“, und später als Dozent in Berlin. Noch während des Studiums lernte er meine Mutter kennen, die oft als Dolmetscherin arbeitete. Zwei Schicksale aus völlig verschiedenen Welten trafen aufeinander.

Als meine Mutter ein Jahr später schwanger wurde, rief sie ihr Chef – ein strammer Genosse – zu sich ins Büro und sagte: „Ilse, ich freu mich für dich und dein Kind. Alles gut. Aber muss es denn unbedingt von einem Neger sein?“ Sie antwortete nur: „Waldemar, Du hast mir ja kein Angebot gemacht“, stand auf und ging.

Ist das nicht kurios? Politisch hatten mein Vater und Mamels Chef dieselbe Überzeugung. Aber rassistische Ressentiments hielten sich überall. Doch, dass das Leben nicht Schwarzweiss war, wusste Mamel am besten.

So kann ich ihr den entspannten Umgang mit meiner dunklen Hautfarbe gar nicht hoch genug anrechnen. Denn ich kenne farbige Kinder, die vor ihrer Mutter laufen mussten, damit keiner mitbekam, dass sie dazu gehörten. Die zur Oma oder ins Heim abgeschoben wurden, weil die Mütter die Reaktionen der Nachbarn nicht ertrugen. Die sich die Haut blutig wuschen, um „so weiß zu werden“ wie ihre deutschen Halbgeschwister. Meine Mutter aber liebte mich von meinem ersten Atemzug an, wie ein großes Geschenk. Sie küsste mir die Stirn, sie nahm mich in den Arm, sie streichelte mir die Wange, sie liebte mich – einfach nur, weil ich da war.

Ich hatte eine behütete Kindheit. Meine Mutter sagte: „Jeder Mensch ist ein Original.“ Ich sollte nicht den Erwartungen anderer entsprechen und mich niemals auf meine Farbe reduzieren lassen, nur weil andere dies tun.

Als kleines Mädchen haben mir viele Leute in die Locken getätschelt. Einfach so, meistens in der Schlange vorm Bäcker. Dann hat mich Mamel auf den Arm genommen und gesagt: „So Bienchen, jetzt darfst du der Tante auch mal in die Haare fassen.“ Das hab ich natürlich gemacht. Ich wunderte mich manchmal, dass die Tanten so erschrocken guckten. Aber begriffen, wie aufdringlich und respektlos solch ein Anfassen ist, haben sie alle.Es hat eben keinen Sinn, Erfahrungen zu machen, wenn man sie nicht anwendet.

Deshalb wurde meine Hautfarbe ein großes Kompliment, das ich meinen Eltern verdankte. Und so spürte ich keine Benachteiligung, sondern Reichtum. Keine Gefahr, sondern Sicherheit. Meine Mutter schützte mich davor, mich zu rechtfertigen. Die DDR schützte mich davor, die Welt kennenzulernen. Und Gott schützte meine Familie vor materiellem Wohlstand.

Gott war ohnehin allgegenwärtig: Mamel war Jüdin, mein Vater war Yoruba – und meine Eltern ließen mich protestantisch taufen. Ich brachte das alles unter einen Hut. So gut, dass ich mich im Gute-Nacht-Gebet auch „für die schönen Pioniernachmittage“ bedankte.

Es gab also drei Religionen in unserer Familie, aber nur eines war wichtig: Dass man keinen Gott – egal welchen – fürchten sollte, sondern lieben. Und wenn es manchmal schwer fiel, dann sollte man eben Fragen stellen: Warum schenkt er uns in diese Welt hinein und lässt so viel Leid zu? Geht man so, mit dem was man geschenkt hat um? „Nein Bienchen“, sagte Mamel dann, „wir gehen mit Geschenken anders um“. Es gab keinen Grund, auf irgendeine Weise orthodox zu werden.

Unsere Welt war in Ordnung. Auch, als meine Mutter eines Tages von meiner Halbschwester erfuhr. Mein Vater hatte eine Ärztin aus Genthin kennengelernt. Wenig später nahmen die Mütter Kontakt miteinander auf und verstanden sich auf Anhieb. Während mein Vater in der DDR unterwegs war, fuhren wir mit Renate und Katharina in den Urlaub, gingen gemeinsam in die Kirche und wurden eine Familie, die sich selbst ausgesucht hatte. Schließlich zogen die beiden nach Berlin. Und unser „Pappy“? Wurde im Gebet immer bedacht.

Im Dezember 1973 – Nigeria erlebte einen Militärputsch, die DDR offenbarte sich als Enttäuschung – ging unser Vater nach London. Er sagte: „Sozialismus funktioniert nicht, so lange Menschen daran beteiligt sind“. Bis zu seinem Tod, 1986, hatten wir Verbindung – leider nur telefonisch, denn Wiedersehen wurden untersagt.

26 Jahre später lernte ich einen Journalisten aus Nigeria kennen. Aderemi bot an, die Familie meines Vaters zu erforschen – und hielt Wort. Tatsächlich hatte er bis zum Sommer 2012 zwanzig Halbgeschwister von mir recherchiert. So viele kannten wir noch nicht! Mit jeder Mail erfuhren wir von neuen Verwandtschaften. Meine Mutter, indes 87, rief nur amüsiert: „Was für ein hübscher Name!“ oder: „Ich wär verrückt, deinem Vater böse zu sein. Ich hab doch dich!“

 

Meine Mutter hatte zwei Leben. Das wurde mir bewusst, als ich die Fotos für ihre Trauerfeier raussuchte. Ich wollte einen Abschiedsfilm machen, aber das chinesische Exil und die DDR mit meinem nigerianischen Papa – das wollte alles nicht zusammenpassen. Es kamen in beiden Hälften ihres einzigen Lebens komplett andere Menschen und Umstände vor.

In ihrem Nachlass fand ich viele Fotos und Dokumente. Und noch mehr Notizen und Gedichte. Sie hat geschrieben und geschrieben. Und wenn sie nicht mehr schreiben konnte – schrieb sie weiter. Kam erst mal ein Gedanke über sie, wurde der sofort festgehalten: auch auf der Telekom-Rechnung, auf der Zeitungsecke, im Adressbuch. Auf einer Notiz stand: „Ich habe viel Massel und werde so beschenkt auf dieser Reise. Ich bin ein Sanguiniker und spüre die Lebensfreude in all meinen Fasern.“ Das war sie. Und diese Daseinslust gab sie an uns weiter. Ich erinnerte mich: Egal, ob wir aus dem Urlaub kamen oder im Alltag steckten, ob es um Liebeskummer ging oder empörte Briefe aus dem Ferienlager – ihr Gruß war schon da. Sie hat uns glücklich gehalten.

 

Als Mamel starb, mussten wir uns plötzlich vom Besten, was uns passieren konnte, verabschieden.

Wir waren überfordert. See- oder Erdbestattung, Diamant-, Kristall-, Baum- oder Weltraumbestattung? Wir hatten nie darüber gesprochen. Manche Angehörige kommen in den Sarg oder in die Urne, andere in die Kette oder in den Briefbeschwerer. Und Mamel?

Ein Friedhofszwang, das wäre nicht in ihrem Sinn gewesen. Da sie hier keine Familie in Gräbern hatte, gab es auch keinen Platz, der ihr entsprach. Heimat war für sie nicht der Ort, den eine Friedhofsverwaltung ihr zuwies. So kauften wir in der Schweiz einen Grabplatz. Denn dort gilt die Urne als bestattet, wenn sie den Hinterbliebenen übergeben worden ist. In Deutschland ist das nur in Nordrhein-Westfalen möglich, Angehörige aus anderen Bundesländern aber müssen diesen Umweg nehmen. Wir jedenfalls hatten meiner Mutter versprochen, sie nach Hause zu bringen. Und dort kam sie an.

Jeder Abschied ist anders. Jedes Andenken auch. Deshalb ist es im wahrsten Sinn lebenswichtig für eine Familie, so etwas Persönliches selbst zu entscheiden.

Das war der einzige Trost. Einen anderen gab es für mich nicht. Die netten, aber vergeblichen Versuche der anderen, haben es mir oft nur noch schwerer gemacht. Sätze wie – „Sie hatte doch ein schönes Alter“, „Wir müssen alle mal sterben“, „Das Leben geht weiter“, „Die Einschläge kommen jetzt immer öfter“ – wirkten auf mich wie banale Phrasen. Ich fühlte mich total unverstanden. Eine Kollegin, fast 20 Jahre älter als ich, sagte mir: „Weißt Du, was das Schlimmste ist? Das steht mir noch mit meinen Eltern bevor.“ Das war in diesem Moment das Schlimmste? Nein, das war das Gegenteil von Trost.

Wir reden doch alle vom Sterben, ohne selbst jemals gestorben zu sein. Wir wissen also nicht, wovon wir reden. Selten wird einem die Abwesenheit von Sinn so bewusst. Es gibt keinen professionellen Umgang mit dem Tod. Deshalb sind wir meist mit dem richtigen Zuspruch überfordert.

Und Gott? Blieb weit weg. Mag sein, dass seine Barmherzigkeit meine Mutter irgendwo erreicht hat – mich auf Erden nicht. Diesmal fand ich in keiner Religion eine Antwort. Dieser Verlust hat mich sehr ernüchtert: Sachlich betrachtet sterben jeden Tag in Berlin 86 Menschen. Weltweit sind es 150.000. Jede Sekunde fordert etwa zwei Menschenleben. Wie will Gott die im Himmel alle in Empfang nehmen? Wie Gott da den Überblick behalten? Er hat uns doch nicht nur mit Gefühlen ausgestattet, sondern auch mit Logik. Das ist ein Segen und ein Fluch.

So gottverlassen war ich dankbar, dass ich die Trauerfeier allein gestalten konnte. Beerdigungen haben mich oft mit ihren seelenlosen Reden ratlos zurückgelassen. Zig mal reproduzierte Gefühlsbekundungen, lieblos heruntergeleierte Biografien; das hatte sie nicht verdient. Vier Tage vor Weihnachten bereiteten wir ihr einen außergewöhnlichen, beseelten Abschied.

Dann begann die Zeit der emotionalen Zumutungen – das erste halbe Jahr war so düster, dass ich mir kaum vorstellen konnte, das Trauerjahr zu überstehen. Als sei zu viel vom Leben genommen worden und zu wenig geblieben. Ich suchte Trost in Büchern und fand ein wegweisendes Gedicht von Mascha Kaléko. In „Memento“ heißt es: „den eigenen Tod, den stirbt man nur / Doch mit dem Tod der anderen muss man leben.“ Das war die Herausforderung. Man muss das Leben wieder lernen.

Allen geht es so. Jeder schafft es auf seine Weise.

 

Mein Trauerjahr dauert länger als zwölf Monate, das weiß ich heute. Deshalb kann ich nicht verstehen, dass die Weltgesundheitsorganisation den Hinterbliebenen seit 1994 nur noch zwei Monate Trauerzeit zugesteht. Und geradezu zynisch ist es, dass internationale Gesundheitsexperten seit diesem Jahr sogar vorgeben, Trauer sollte schon nach zwei Wochen „als behandlungsbedürftig“ gelten. Es gibt Leute, die glauben das.

Schöner trauern? Daran glaube ich nicht. Ich probiere es auf meine Art, ohne Therapie und ohne Medikamente. Meine Trauer steht mir oft im Weg, aber mit der Zeit wird der Weg breiter, und am Rande gibt es immer öfter glückliche Momente. Dann spüre ich festen Boden unter meinen Füßen.

Doch noch gerate ich durch kleine Impulse ins Straucheln: durch Musik oder einen Gegenstand, eine Mimik oder ein Datum, eine ältere Dame in der Synagoge, die vor mir mit einem Rollator sitzt oder das Wiedersehen mit meinem Sohn, der jetzt in London lebt. Das genügt. Dann habe ich nicht mehr die Situation im Griff, sondern die Situation mich. Dann zerreißt mein Herz und ich möchte mein altes Leben zurück. Dann dreht sich wieder das Gefühlskarussell und hält bei der bitteren Erkenntnis: Dass Mamel wirklich nicht mehr lebt. Dass sich Liebgewonnenes nicht mehr retten lässt.

 

Mir fehlt unser tägliches Telefonat und das dreimalige Tschüss-Sagen am Ende. Mir fehlt, wie sie vorm Losgehen nach dem Wohnungsschlüssel sucht und mir erklärt, wie sie bald ihr Zimmer umstellen möchte. Mir fehlen die Sonnenblumen, die sie mitbringt oder ihre Ermahnungen, besser auf meine Gesundheit zu achten.

Ich muss es aushalten. In diesem einen Jahr habe ich – in Momenten, in denen ich nicht funktionieren musste – viel geweint. Ich dachte, ich wäre leergeweint, hätte keine Tränen mehr. Doch so ist es nicht. Keine Ahnung, wann es aufhört.
Aber sie ist jede Träne wert.

 

 

Kommentare:

Anke sagte am 23/11/2013 um 09:25 :

Liebe Abini, es ist Samstagmorgen und nie fange ich beim Lesen der Zeitung mit dem Magazin an – außer heute. Und nun sitze ich hier und mir laufen die Tränen….es berührt mich unglaublich, wie du über dich, deine Mamel denkst und schreibst. Ich bin 46, habe zwei erwachsene Kinder und ein winziges Enkelchen, alles Dinge, die ich mit meiner Mama gerne geteilt hätte. Sie ist seit 1995 nicht mehr und ich vermisse sie, immer noch. Das Lesen heute hat es mir erst wieder deutlich gemacht. Es wird auch nicht besser, nur anders. Es tut mir leid. Ich glaube aber auch, dass du für deine beiden Kinder die gleiche Bedeutung hast, wie deine Mamel für dich. Du gibst es weiter und das ist ein wahnsinniges Geschenk an alle – auch an dich. Ich wünsche dir soviel Zeit zu haben, wie du brauchst und es immer zulassen zu können, um sie zu weinen, und wenn es bei einer Musik oder bei einem noch so kleinen Gedanken ist.
Alles Gute, Anke Schmidt


Hanni Mahnke sagte am 23/11/2013 um 12:17 :

Liebe Abini,
Du gibst meinem Gefühl genau die Worte, die ich nicht selbst formulieren kann. DANKE.
Meine Eltern sind vor 1 1/2 Jahren im Abstand von 3 Monaten verstorben und ich vermisse sie jeden Tag. Deine Zeilen geben mir viel Energie und Kraft um, wie Du es so schön beschreibst, “festen Boden unter meinen Füßen” zu erlangen und “immer öfter glückliche Momente” mit meinem Mann, meinen erwachsenen Kindern und meinen Freunden zu verspüren.
Alles Gute!
Hanni Mahnke


Christa sagte am 23/11/2013 um 14:50 :

Liebe Frau Zöllner,
wie haben uns in jenem Gesundheitsforum kennengelernt. Wir hatten einen Info-Stand.
Als ich den Titel heute im Magazin las, liefen mir sofort die Tränen. Meine Mutter – wenn ich was über Liebe im Leben weiß, dann durch sie – ist am 1. November letztes Jahr gestorben. Wir hatten viele Monate der Vorbereitung und sie hat mich mit in den Vorraum des Sterbens genommen – zärtlich, verzweifelt, kämpfend, leidend. Es tut so weh zurückzubleiben -und doch ist es das Normalste von der Welt. Und ich hatte Sie auch noch so lange, dass wir sogar darüber sprechen konnten, das sei “dort” auf mich wartet- als Vorschau auf meinen eigenen Tod. Nachdem ich erlebt habe, wie meine Mutter ihre Mutter bis zum Schluss vermisst hat, wird es wohl auch bei mir so sein. Aber das hat sie ja auch nicht daran gehindert, wieder ganz glücklich zu sein. Große Gefühle müssen einfach gelebt werden und so wie man zusammen lacht und mit anderen das Glück teilt, sollten wir auch den großen Schmerz und die Trauer teilen. Das hält uns doch zusammen. Danke dafür, auch an die die hier schreiben, und ich wünsche Ihnen,, dass Sie viel Trost erfahren.
Christa Rustler


Ute sagte am 23/11/2013 um 20:16 :

Liebe Frau Zöllner, mich hat selten ein Bericht über das Sterben und das Abschiednehmen so emotional angesprochen wie ihr Bericht. Plötzlich stand alles wieder vor mir. Vor fast 25 Jahren ist meine Mutter gestorben, doch ich vermisse sie noch immer. Danke für ihre Worte.
Ute Hessing


Sabine sagte am 24/11/2013 um 09:22 :

Liebe Frau Zöllner,
danke für diesen tief bewegenden und sehr ergreifenden Artikel. Ganz sicher war ich nicht die Einzige, die beim Lesen Tränen vergossen hat.
Danke für den Einblick in ihre Familiengeschichte.
Lassen Sie sich alle Zeit der Welt für Ihre Trauer. Ich war regelrecht geschockt von den im Artikel erwähnten *empfohlenen Fristen* der WHO.
Wie Trauer gestaltet wird und wie lange man diese lebt, das entscheidet allein der Trauernde.
Meine Gedanken sind bei Ihnen.

Cordula sagte am 24/11/2013 um 09:55 :

Liebe Frau Zöllner,
“Keine Ahnung, wann es aufhört”, schreiben Sie. Ganz hört es wohl nie auf. Meine Mutter ist vor acht Jahren gestorben, und immer noch kommen mir manchmal spontan die Tränen, z. B. neulich, als ich im Kaufland eine kleine ältere Dame mit kurzen rotbraunen Haaren und krummem Rücken sah, die auf ihren Einkaufswagen gestützt um die Obst- und Gemüseauslagen kurvte. Genau wie meine Mutter…
Und erst letzte Nacht habe ich von einer lieben Freundin geträumt, die vor 11 Jahren gestorben ist: In meinem Traum war sie gar nicht gestorben, sie hatte die letzten 11 Jahre in Südamerika gelebt und einfach nur vergessen, sich zu melden. Jetzt war sie wieder da und alles wieder gut…
Ich denke, die Trauer um einen geliebten verstorbenen Menschen begleitet uns ein Leben lang. Und warum auch nicht? Das scheint doch ganz normal zu sein. Wozu gibt es denn schließlich sonst so etwas wie den Totensonntag? Aber die Qualität der Trauer ändert sich mit der Zeit:
Irgendwann lösen die Erinnerungen viel öfter ein Lächeln als Tränen aus.


Evelin Thorau sagte am 26/11/2013 um 10:05 :

Liebe Frau Zöllner, meine Mutter ist jetzt 90 Jahre alt, hat als wohl behütetes Kind einer deutschen Familie 1947 im Alter von 23 Jahren einen Mann mit 5 Kindern zwischen 3 und 10 Jahren gegen den Willen ihrer Familie geheiratet. Er hatte seine Frau durch eine schwere Krankheit nach den Fluchtereignissen der Kriegsjahre verloren. Meinen Vater und zwei meiner Brüder haben wir schon verloren. Meine Mutter ähnelt Ihrer Mammel – war voller Energie, liebte alle ihre 7 Kinder gleichermaßen und gab besonders den 5 “Mitgeheirateten” ein neues Zuhause. Heute lebt sie bei mir (ich bin 59 Jahre). Sie ist stets umgeben von jungen Menschen, Enkeln, Urenkeln, Kindern und unseren Freunden. Das hält jung, und für mich ist es eine schlimme Vorstellung, daß sie einmal nicht mehr da ist. Darum hat mich Ihr Artikel auch besonders bewegt. Heute morgen war ich etwas barsch mit ihr, danach habe ich Ihren Artikel gelesen und dachte mir: ich habe heute noch etwas gut zu machen. Ich denke, Ihr Artikel hat in zweifacher Hinsicht einen wichtigen Zweck erfüllt: Sie haben eine Form gefunden, Ihren Schmerz auszudrücken und wir anderen haben einmal mehr erfahren, wie teuer unsere Mütter für uns sind, die – zuverlässig und jung geblieben – immer für uns da sind. Sie werden Ihre Mammel immer vermissen, aber das Leben macht, dass wir ruhiger mit diesen wertvollen – wenn auch schmerzlichen – Erinnerungen umgehen. Vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel!


Sakino sagte am 30/11/2013 um 22:29 :

Liebe Frau Zöllner
Danke für Ihren zutiefst bewegenden Artikel.
Jeder Satz berührt mich, vor allem die tiefe Liebe, die aus Ihnen spricht.
Meine Mutter starb plötzlich im Alter von 62 Jahren 1979. auch nach all dieser Zeit vermisse ich manchmal, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, die Nähe, die ich mir gewünscht hätte, herzustellen.
Ihre Worte wärmen mein Herz.
Ich wünsche Ihnen ganz viel Kraft.

 

Michael Schneider sagte am 14/12/2013 um 23:24 :

Liebe Abini, ich lass deine ergreifenden Zeilen vom Verlust deiner lieben Mamel im Büro und konnte meine Tränen nicht unterdrücken. Zu Hause begann ich meiner Manuela vorzulesen, bis Sie dann für mich weiter lass – und wir beide weinten. Seit der Krankheit meines geliebten Vaters und seinem Tod vor 7Jahren habe ich nach der Kindheit, als Erwachsener wieder öfter geweint. Ich z. B. glaube, das mein Vater in mir weiter lebt (ich sehe und erkenne Ihn oft in mir) und wenn ich auch nur ein Teil von Ihm bin, bin ich schon beruhigter weil ich weiß, dass er somit bei mir allseits gegenwärtig und nicht verloren ist. Das gibt mir etwas Trost. Ich glaube auch, das er nicht gewollt hätte, dass mich der Verlust und die Traurigkeit so quält. Und deine liebe Mamel hätte bestimmt auch nicht gewollt, dass du dich so quälst. Sie hat dir bestimmt viel gegeben, was in dir weiter lebt, so wie auch du sicherlich schon deinen Kindern viel von dir mitgegeben hast, und bestimmt sogar auch ein Teil von deiner lieben Mamel. Ich wünsche dir viel Kraft den schweren Schlag zu überstehen und mit dieser schweren, noch neuen Situation umzugehen und zu leben. Stark bist du – das glaube ich – woher du die Stärke hast, kann ich nach deinen Zeilen nur ahnen. Liebe Grüße Micha

Christine sagte am 18/12/2013 um 15:17 :

Liebe Abini, danke….